14.05.2021
Herausforderungen der Gremienarbeit
Ein Beitrag von Dr. Sebastian Rick, Leiter des Kreiskirchenamtes
Jeder Gemeindekirchenrat, jeder kommunale Gemeindevertreter oder jedes Vereinsvorstandsmitglied wird es kennen. In einer Sitzung gibt der Vorsitzende einen unabgesprochenen Verfahrensweg vor, der einem selbst jedoch überhaupt nicht gefällt. Doch schaut man in die versammelte Runde, erkennt man überwiegend Zustimmung. Manche mögen den Vorschlag aus Überzeugung für gut erachten, andere stimmen eher desinteressiert zu, andere wiederum folgen dem Vorschlag nur aus opportunistischen Gründen. Man erkennt, man steht auf verlorenem Posten. Bringt es nun etwas, gegenteiliger Meinung zu ein? Möchte man als „Querulant“ gelten, der das Projekt des Vorsitzenden zerredet und damit den Unmut aller auf sich zieht?
Gleichfalls wägt man ab. Ist es mir wirklich so wichtig? Zumal man selbst in der nächsten Zeit auch schöne Ideen umsetzen möchte, für die man wiederum die Unterstützung der anderen benötigt. Überdies plagt einem bereits vorab das schlechte Gewissen, da mit unbequemen Fragen wohl das gute Verhältnis zum Vorsitzenden gefährdet wäre. Oft kommt man so zu der Erkenntnis, dass man mit der sprichwörtlichen Faust in der Tasche dem Vorschlag des Vorsitzenden doch zustimmt. Von einem „Luther-Moment“ keine Spur.
Bedenkt man, dass Luther in Worms bereits die Rufe der spanischen Reiter hörte, die ihm dem Feuer übergeben wollten, erscheint sein Widerspruch auf dem Reichstag umso mehr von übermächtiger Größe. Luther war im besten Sinn extrem, leidenschaftlich, kompromiss- und schonungslos gegen sich selbst und andere. Wenn jeder Gemeindekirchenrat, jeder kommunale Gemeindevertreter oder gar jedes Vereinsvorstandsmitglied bereits bei kleinen Entscheidungen wie Luther handeln würde, unser auf Kompromisse orientiertes System wäre wohl schnell am Rand des Zusammenbruchs.
Dennoch gibt es persönliche „Luther-Momente“. Wenn die eigene Kompromissbereitschaft aufgebraucht ist, wenn moralische Grundsätze und sachliche Standpunkte berührt werden und vor allem, wenn dem Gegenüber die Meinung ungeschönt kommuniziert werden muss, kommt der „Luther-Moment“. Der Konflikt ist auf die Spitze getrieben, eine Einigung im Gremium scheint nicht mehr möglich. Dies setzt jedoch immer zwei kompromisslose Parteien voraus und jede muss dafür ihren Preis bezahlen. Sei es in der persönlichen Beziehung zum Gegenüber, im zukünftigen beruflichen Fortkommen oder auch für das eigene Selbstbild.
Doch offenbaren m. E. heute wie damals „Luther-Momente“ auch eine Unsicherheit der vermeintlich Mächtigen. Kaiser Karl V. hätte Luther nicht mit dem Tod drohen müssen, wäre er sich sicher gewesen, dass seine Weltsicht die Oberhand gewinnt. Und auch ein heutiger Vorsitzender muss nicht mit der vorzeitigen Abwahl eines Vorstandsmitglieds argumentieren, nur um seinem Standpunkt zur Mehrheit zu verhelfen. So zeigt uns das Beispiel, wie wichtig offene Diskussionen sind. In einer freien Diskussionskultur bedarf es keiner „Luther-Momente“ mehr. Jeder kommt zu seinem Recht, die Mehrheit als auch die Minderheit. Und sei es nur dadurch, dass ein offener angstfreier Disput geführt wurde. Nur müssen wir den Mut zur gegenseitigen schonungslosen manchmal auch schmerzlichen Duldsamkeit wohl gerade heute mehr denn je wieder lernen.
Dr. Sebastian Rick, Leiter Kreiskirchenamt