14.06.2021
Gefangen in Gottes Wort
Landesbischof Friedrich Kramer über Luther und Widerstand
Erster Tag in der neuen Schule, der Philipp-Melanchthon-EOS in der Lutherstadt Wittenberg in der Aula: Ein riesiges Luthergemälde “Luther auf dem Reichstag zu Worms.” Darunter die FDJ-Fahnen und ein Begrüßungsprogramm mit Agitprop, also Agitation und Propaganda. Einfach aufzustehen und auf die Bibel zu zeigen in heroischer Geste – irgendwie war das ansteckend, und was darunter lief, konnte den „Luther-Moment“ für uns Protestanten nicht mindern. Luther war eben unser Mann.
Und dann hatten auch wir unsere kleinen Luther-Momente: bei der Pflichtpfingstdemonstration gegen NATO-Waffen die falschen Plakate mitzubringen mit einem Mann drauf, der ein Gewehr zerbricht. Oder im FDJ-Seminar über den Sozialen Friedensdienst zu referieren und zu diskutieren, oder eine Baumpflanzaktion zu machen gegen das Baumsterben. Und beim Kulturprogramm Bettina Wegner zu singen. Widerstand hat dann immer auch etwas Spaß gemacht und war so oft auch total frustrierend, Argumente galten nicht, und es war unendlich humorlos. Zwischen Verzweiflung und Lust am Widerstand, in aller Verzagtheit ein unerschrockenes Wort wagen:
„Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort.“
Genau das schätze ich an Luther: dass er mit dem Bild des Gefangenseins in Gottes Wort die größtmögliche Freiheit auszudrücken im Stande ist. Denn nichts anderes sagt er doch: wenn wir uns in Gottes Wort gefangen halten lassen, sind wir frei und erlöst, uns den Mächtigen nicht zu beugen.
Die vielen kleinen Luther-Momente münden dann im Herbst 1989 in den großen Luther-Moment ein: Da standen wir und konnten nicht anders. Als der HERR durch uns mit Kerzen und Gebeten das Unmögliche möglich machte.