03.06.2020
"Übrigens ..."

Wie Sprache Wirklichkeit schafft

In dieser Woche hätte Marcel Reich-Ranicki seinen 100. Geburtstag gefeiert. Am 2. Juni 1930 wurde er in Polen geboren. Seine Eltern wurden in den Gaskammern der Nazis ermordet. Reich-Ranicki hat im Warschauer Ghetto als Übersetzer gearbeitet. Seine Liebe zur Sprache hat ihm das Leben gerettet. Nach dem Krieg flieht er nach Deutschland. Unter seinem Arm zwei Bände eines deutsch-polnischen Wörterbuches. Er hoffte, dass er leben wird, weil er die Wörterbücher bei sich hat. Marcel Reich-Ranicki setzte die Hoffnung auf Leben mit der Fähigkeit zur Sprache gleich. Und seine Fähigkeit zur Sprache half ihm zum Leben. Die Sprache der Täter – die deutsche Literatur – wurde für ihn zum Gegenbild des Hitlerregimes. Sprache ist die Fähigkeit der Kommunikation. Wer spricht und versteht, der kann in Kontakt kommen. Sprache kann ermutigen und verletzen. Manche Wörter tun mehr weh als der „Schlag in die Fresse.“ Marcel Reich-Ranicki wird bekannt bleiben für seine Kritiken. Sprache war seine Leidenschaft und Sprache schafft Wirklichkeiten. Wenn der Tonfall rauer wird, wenn im Internet Wörter dazu benutzt werden, andere zu diffamieren und zur Gewalt aufzurufen, dann ist der Weg zur Umsetzung kurz. Aus Wörtern werden Taten. In der Kirche haben wir gerade das Fest der Heiligen Geistes gefeiert. Gottes Geist, der uns hilft, in Wahrheit zu reden und andere zu verstehen, er sende auch Verstand und Weisheit.

Otto-Fabian Voigtländer, Pfarrer in Kirchenkreis Bad Liebenwerda