23.06.2023
..eine ganz gewöhnliche Geschichte, in Lugala / Tansania

Vorgestern sah ich ein jugendliches Mädchen von hinten, hinkend und offensichtlich nicht ohne Schmerzen, mit einer Essenstüte in Richtung unserer geburtshilflichen Abteilung gehen. Ich sprach es an und fragte es nach seinem Namen...

Das Mädchen heisst Tatu, es ist das Suaheli-Zahlwort für „drei“. Afrikanische Menschen sind pragmatisch, Tatu ist als drittes Mädchen in ihrer Familie geboren worden und deshalb wurde sie „Drei“ (oder als Ordinalzahl verstanden „Die Dritte“) genannt. Dann meinte ich, dass sie anscheinend auf dem Weg sei ein Familienmitglied, das ein Kind erwarte oder schon geboren habe, mit Essen zu versorgen. Dem war so, es ging um ihre ältere Schwester. Daraufhin sagte  ich zu ihr, dass sie wohl ein Problem mit ihrem rechten Knie hätte und fragte sie ob sie bereit wäre, das einmal gemeinsam anzusehen, vielleicht könne ich ihr helfen. Sie war gern dazu bereit. Es zeigten sich die beiden Bilder links der oberen Bilderserie. Medizinisch handelt es sich um ein Genu varum dextrum, ein rechtsseitig nach medial (innen) konkav, nach lateral (außen) konvex deformiertes Knie. Das Problem hatte sich entwickelt, nachdem Tatu begann Laufen zu lernen.

Physiologischerweise hat der Mensch bis zu seinem zweiten Lebensjahr angedeutete Genua vara (leichte O-Beine), dann bis zum fünften Lebensjahr angedeutete Genua valga (leichte X-Beine) und danach sollten die Beine mehr oder weniger eine Parallelstellung aufweisen. Bei Tatu wird das rechtsseitige mediale (innere) Kniegelenkskompartiment bei jedem ihrer Schritte axial komprimiert: durch Stauchkräfte wird die hyaline (klarsichtige) gelenkbildende Knorpelschicht von angrenzendem distalem Femur (unterem Ende des Oberschenkel-knochens) und angrenzender proximaler Tibia (oberem Ende des Schienbeins) druckgeschädigt. Tatu geht auf der Innenseite des Gelenks vermutlich bereits auf der sogennanten subchondralen Knochenlamelle, einer Gewebsschicht unter dem physiologischen (natürlichen) Knorpel, welche dicht besetzt ist mit nervalen C-Phasern (Schmerzrezeptoren). Deshalb klagen Arthrotiker gewöhnlich auch nicht über Bewegungseinschränkungen, die mit dem Geschehen einhergehen, nein, sie klagen über Schmerzen - und das konnte ich bei Tatu, als sie vor mir herging, wahrnehmen, dass sie bei jedem Schritt Schmerzen hatte.

Knorpelgewebe ist bradytrophes (wörtlich „langsam“, aber vielleicht besser: „schlecht ernährtes“) Gewebe. Deshalb ist es wenig widerstandsfähig und, einmal geschädigt, regeneriert es auch praktisch nicht oder kaum. Hyalines Knorpelgewebe erscheint klarsichtig, weil es Nährstoffe „per diffusionem“ erhält, das heisst, dass Blutgefässe nur bis an seine Peripherie heranreichen und von dort die Nährstoffe durch Diffusionskräfte, im wesentlichen osmotische, dem Knorpelgewebe zugeführt werden (dagegen erscheint uns zB Muskelgewebe rot, weil es reichlich perfundiert, gut mit Blutgefäßen versorgt ist).

Und lateral (auf der Außenseite) ist Tatus rechtes Kniegelenk „ausgeleiert“, weil sowohl die Gelenkkapsel, vor allem aber das Stabilität verleihende Kollateralband (Seitenband) chronisch überdehnt sind.

Ich bat Tatu, mit ihrer Familie zu kommen, welche nur zwei oder drei Kilometer vom Hospital entfernt wohnt.

Ihre Familie kam gestern. Der Vater mit drei Kindern. Die Mutter sei „schon lange“ gestorben, auf meine Nachfrage einer ungefähren zeitlichen Einordnung, einigten sich Vater und älteste Tochter auf sechs oder sieben Jahre. Woran? An „homa“, das bedeutet in Suaheli „Fieber“ (Der „Status febrilis“ ist differentialdiagnostisch weit gefasst; an Malaria ist sie im Erwachsenenalter und als vermutlich semi-immune Afrikanerin in einem holoendemischen Malariagebiet, in dem die Malaria regelmäßig geboostert wird, vermutlich nicht gestorben. Holoendemisch meint, dass die Erkrankung das ganze Jahr hindurch, aber mit saisonalen Fluktuationen, prävalent und inzident, kurzum: präsent ist. Die Malaria begründet keine kompetente Immunität, man spricht mit einem nicht ganz anerkannten Terminus von „semi-immun“ und selbst um diese aufrecht zu erhalten, muss die Erkrankung regelmäßig ge-boostert werden: die Menschen müssen regelmäßig re-infiziert werden).

Jonisa, links im Familienbild, ist 22 Jahre alt, sie hat die Grundschule beendet und ist seitdem zu hause (wie fast alle Kinder, die die Grundschule und die meisten, die die Sekundarschule mit Abschluß Form IV beenden - ohne berufliche Perspektive, ohne Einkommen, ohne die Chance irgendwann einmal ein wirtschaflich selbstbestimmtes Leben führen zu können). Wer eine tansanische Grundschule erfolgreich abgeschlossen hat, begrüßt einen danach zu jeder Tages- und Nachtzeit mit „Good morning, teacher!“ oder bisweilen auch mit „Good morning, father!“ (letztere Anrede soll eigentlich Kleriker adressieren) - das ist kein Witz, das ist so. Seit dem Tod der Mutter, also seit sie fünfzehn oder sechszehn Jahre alt ist, ersetzt Jonisia die Mutter für Haushalt und Kinder. Dabei muss die Familie mit dem auskommen, was zwei Acre bestellten Bodens unter inzwischen veränderten klimatischen Rahmenbedingungen noch abwerfen. In jedem Fall dürfte das Jahreseinkommen der Familie weniger als 275 € betragen.

                                                                                                       

Guido, rechts im Familienbild und auf dem Bild rechts in der Reihe, sei normal geboren worden und hätte dann irgendwann im Kindesalter, mit etwa fünf Jahren „ndegendege“ bekommen („ndegendege“ bedeutet in der Lokalsprache „generalisierte Krampfanfälle“; vielleicht hatte er eine cerebrale, neuere Terminologie: komplizierte Malaria). Guido ist 16 Jahre alt, hat nie eine Schule besucht, und seine rechte Oberextremität (Arm) weist eine Volkmann`sche Kontraktur auf (eine irreversible, schwere Deformität) als Endzustand einer vorausgegangenen schweren Durchblutungsstörung des betroffenen Armes, die über Tage angedauert haben dürfte. Angenommener Weise ist er bei einem der generalisierten Krampfanfälle gestürzt und hat sich eine rechtsseitige supracondyläre Humerusfraktur (einen Bruch des unteren Abschnitts des Oberarms), disloziert (die Bruchfragmente standen auseinander) zugezogen. Diese Brüche sind bei Kindern im ländlichen Afrika recht häufig, ich habe allein in der vergangenen Woche vier Kinder mit entsprechenden Brüchen behandelt. Sie führen zu erheblichen Ödemen und Hämatomen (definierten Blutansammlungen) im Bruchbereich und in der Ellenbeuge, und beide, Ödeme und Hämatome, können zu kritischer Kompromittierung (Einschränkung bis hin zur kompletten Unterbrechung) der Blutversorgung des Unterarmes und Nervenkompression in der Ellenbeuge führen mit entsprechenden Muskelnekrosen (Absterben der Muskulatur, insbesondere der Flexoren, der Beugemuskeln). Im Falle von  Guido ist der gemutmaßte Bruch nicht behandelt worden. Summa summarum: Guidos Leben ist geprägt durch absolute Armut; er hat nie eine Schule besucht und kann weder seinen Namen schreiben noch lesen (in alter Terminologie: er ist Analphabet; in neuerer: er ist illiterat - was wieder mal einer dieser neologistischen Fuzzy-Bezeichnungen ist, denn illiterat ist für mich jemand, der lesen kann, aber nicht belesen ist); er hat eine erhebliche unumkehrbare körperliche Behinderung, wahrscheinlich als Folge nicht erfolgter Behandlung einer an sich gut behandelbaren Fraktur; er hat jetzt und wird in Zukunft kein Einkommen haben. Mit anderen Worten: Er wird lebenslang zu einer gesellschaftlichen Marginalexistenz verdammt sein.

Nun fehlt ja noch ein Kind. Tatus Schwester in der geburtshilflichen Abteilung. Sie heißt Hadija und ist 17 Jahre alt, inzwischen hat sie geboren. Sie erscheint kindlich, als ein adolescentes Kind. 25%, ein Viertel aller unserer 2 700 Geburten pro Jahr in Lugala sind Teen-pregnancies. Die meisten dieser jungen Frauen, haben, wie auch Hadija, keine formale Bildung (Schulbildung) - als nationale Policy hat seit Nyerere jedes tansanische Kind ein Recht auf eine qualitätsgesicherte Primarschulbildung - und dementsprechend auch keine Ausbildung. Die  Mehrzahl der Erzeuger hat sich bereits während der Zeit der Schwangerschaft dauerhaft absentiert. Auf meine Frage an den Vater, also den Großvater, wer denn nun für das Kind sorgen werde, sagte er „Wir“. So, wie für die Kinder in ärmsten Milieus gesorgt wird, sie überleben physisch - oder nicht einmal das. Zumindest steht Jonisias, Hadijas, Guidos und Tatus Vater zu seiner Familie und zu seinen Kindern. Und übermäßiger Alkoholkonsum, wie so oft bei den Männern im armen Milieu, erscheint mir auf den ersten Blick und in diesem Falle auch kein das Familienleben komplizierender und destruierender Faktor zu sein.

In unserer „Reproductive and Child Health Clinic”, bieten wir, ausgenommen Abruptio (Abtreibung), ein weites Spektrum von „family planning methods“ an: Orale Contraceptiva („die Pille“), Intrauterine contraceptive devices („Spiralen“), Depot-Provera („die 3-Monats Spritze“), Inplants (subcutan applizierte Hormonpräparate für Langzeitverhütung), Tubar ligation (Sterilisatio/Ligatur der Fallopian tubes, der Eileiter), male condoms und female condoms. Die meines Erachtens effektivste Geburten kontrollierende Maßnahme ist nicht dabei: Education, formale Bildung, also qualitativ gesicherte Schulbildung.                                                                Wenn Frauen gelegentlich um eine Tubenligatur (Sterilisatio) bitten, dann beinahe ausschließlich gegen Ende der physiologischen Reproduktionsperiode, also mit etwa 45 Jahren. In beinahe 30 Jahren an sechs verschiedenen Hospitälern in drei verschiedenen afrikanischen Ländern ist mir kein einziger Fall bekannt, in dem ein Mann um eine Sterilisation nachgefragt hätte.

By the way: Abruptiones sind streng verboten in Tansania. Sie werden überall von Hospitalmitarbeiter-innen, nicht-kirchlicher wie kirchlicher Hospitäler, sowie von nicht medizinisch versierten Personen im Hospitalumfeld und in den Dörfern durchgeführt. Kostenpunkt im Hospitalumfeld: 20 000 TZS (8 €).

Die Frage bleibt: Warum kann ein Kind mit einem Kniegelenk, das eindrücklich von jeder erwarteten Anatomie abweicht und offensichtlich bei jedem Schritt schmerzhaft ist, fünf Jahre lang in eine Grundschule gehen ohne dass auch nur ein-e einzige-r Lehrer-in oder der/die Schulleiter-in auf den Gedanken kommt, Empathie zu zeigen und zu versuchen entsprechende Hilfe zu veranlassen?! Bartholomäus Grill, langjähriger Afrika-Korrespondent von DIE ZEIT und u.a. Afrika-Berater des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler spricht in seinem Buch „Ach Afrika!“ von „der unerträglichen Gleichgültigkeit der Afrikaner“ (Gedächtnis-protokoll, das attributische Adjektiv mag ein vergleichbares gewesen sein). Das, soweit es des Kindes Lehrer-innen angeht.     

Von Tatus Familie war keine Initiative zu erwarten. Völlig verarmte Familien befinden sich in einem Circulus vitiosus, in einem Teufelskreis aus Armut und Unterernährung und häufig genug Krankheit und in einer anhaltenden existenziellen Grenzsituation mit einem ununterbrochenen, einem täglichen Kampf ums Überleben - Tatu hat zumindest überlebt ! Familien, aussichtslos in der Armutsfalle gefangen, haben keine sozio-ökonomische Lösungskompetenz im Sinne adäquater Antworten auf Lebensherausforderungen, die über den heutigen Tag hinausreichen.

Und der Staat? Beschreibt, wie schon oft erwähnt, in „official policies“ alles in idealer, besser: utopischer Art und Weise. Wie sagt man doch: „Afrikaner beschreiben die Welt immer so, wie sie möchten, dass sie wäre, während es uns Europäern zukommt, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist.“

Am morgigen Donnerstag werde ich das rechte Bein Tatus mittels Korrektionsosteotomie in eine anatomisch gerechte und funktionale Stellung bringen, nicht zuletzt um weiteren Sekundär- und Tertiärschäden vorzubeugen und dem Kind eine hoffentlich schmerzfreie Zukunft zu eröffnen und somit vielleicht auch einen Beitrag zu „self esteem“, zu einem gestärkten Selbstwertgefühl des Kindes zu leisten. 

Text: Dr. med. Peter Hellmold, Chefarzt Lugala Lutheran Hospital, Lugala Tansania


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